[Rezension] Amann, Jürg: Die Reise zum Horizont

Details:
Originaltitel : Die Reise zum Horizont
Autor: Jürg Amann
Genre: Romane und Erzählungen
Reihe: –
Gattung: Novelle
Verlag: Haymon Verlag ( 2010 )
Seiten: 104

Inhalt:

Zwischen den Gletschern der Anden stürzt ein Flugzeug ab. Die Überlebenden sind in einer Wüste aus Eis und Kälte gefangen, vollkommen allein und die Hoffnung auf Rettung schwindet von Tag zu Tag. Mit der verschwindenden Hoffnung gehen auch die Nahrungsmittel zu Ende und der Hungertod naht, gleichzeitig taucht aber ein Gedanke auf, den anfangs niemand aussprechen will: Im Eis liegen die Toten – gut konserviert – die ihr Fleisch nicht mehr benötigen …

Meinung:

Die Novelle von Jürg Amann über einen Flugzeugabsturz mitten in den Anden hat einen wahren Hintergrund, nämlich den Absturz der Fuerza Aeara five seven one in den 1970er Jahren. Um dieses Ereignis konstruiert der Autor eine Parabel über Leben und Tod und einem Tabu, das unter diesen Umständen völlig umgeworfen wird.

Alles beginnt mit der Stille. Der Stille, die eintritt, wenn eine Katastrophe gerade eben geschehen ist. Das Flugzeug am Boden zerschellt, einzelne Überlebende verstreut, betäubt und ungläubig, unter Schock stehend. Und überall Tote. Mit nur wenigen Worten schafft es Jürg Amann diese Stille zu beschreiben, in einer Intensität, die ich mir so nicht hätte ausmalen können.

In diese Stille tritt der Ich-Erzähler, der ausschließlich in einer stellvertretenden Position für diejenigen spricht, die überlebt haben, der ihre Gedanken widergibt und erzählt, was vor sich geht. Er beschreibt die Situation nach dem Absturz, erzählt von Flugpassagieren, die plötzlich nicht mehr Individuen sind, sondern zu verschiedenen Gruppen gehören. Diejenigen, die überlebten und diejenigen, die starben.

Die Reise zum Horizont besteht aus Figuren, aus Menschen, die keine Namen tragen, sondern ihrer Funktion entsprechend benannt sind: die Verletzten, die Unverwundete. Ein Arzt. Eine Stewardess. Ein Medizinstudent. Männer und Frauen. Jeden von uns könnte es treffen. Jeder von uns könnte von einem Tag auf den anderen in die Situation zu geraten, um’s Überleben kämpfen zu müssen, in Mitten einer Gletschereinöde.

Wenn der Schock nachlässt und die Realität an Kraft gewinnt, steht die Hoffnung am Anfang. Die Hoffnung gerettet zu werden. Doch je mehr Tage vergehen desto kleiner wird diese und als die Nahrungsmittel nach und nach ausgehen und immer mehr Überlebende die eisigen Nächte nicht überleben, stellt sich die Frage, was können wir tun? Wie können wir überleben oder sind wir dazu verurteilt in einer Eiswüste zugrunde zu gehen?

Werden wir bestraft? Und wenn ja, für was genau und von wem? Gibt es einen Gott oder hat das Schicksal bestimmt, dass genau dieses eine Flugzeug abstürzt in einer Gegend, in der es nichts gibt außer eisiger Kälte? Das sind nur einige der Fragen, welche die Überlebenden des Flugzeugabsturzes beschäftigen. Allen voran die Frage nach der Seele des Menschen. Gibt es so etwas wie die Seele und was geschieht mit ihr nach dem Tod?

Jürg Amanns Figuren sprechen über Moral und diskutieren Tabus, denn durch ihre Lage werden sie dazu gezwungen. Um zu überleben müssen sie daran denken das Fleisch der Toten zu nehmen. Nur mit Nahrung kann die Hoffnung weiter existieren, dass sie doch noch gerettet werden, dass sie ein Suchtrupp findet und aus der Hölle, in der sie sich befinden befreit.

Besonders beeindruckend ist nicht nur das Thema der Novelle, sondern auch die Art und Weise, wie der Autor diese Menschheitsparabel beschreibt. Er benutzt eine einfache Sprache ohne komplizierte Satzstrukturen. Keine Dialoge oder ausschmückende Satzglieder. Lediglich der Erzähler spricht, dessen Worte aber durch ihren Inhalt an den Nerven der Lesenden knabbern. Zudem ist gerade das Nichtgesagte interessant. Als Leser muss man zwischen den Zeilen lesen und sich dieselben Fragen stellen, wie die Flugpassagiere. Was würde ich tun, wenn ich an deren Stelle wäre?

Fazit:

Die Reise zum Horizont ist eine betäubende Lektüre, die von Leben und Tod handelt, aber auch von Moral und dem Drang zu Überleben. Was ist erlaubt, um sich selbst am Leben zu erhalten? Wie weit darf der Mensch gehen? Jürg Amann gebraucht nur wenig Worte in seiner Novelle, aber jene, die er verwendet, treffen den Leser direkt in seinem Inneren und bringen ihn dazu selbst nachzudenken, sich selbst in dieser Situation zu sehen, die schockierend, beängstigend und eigentlich unvorstellbar, aber dennoch nur allzu realistisch ist.

Daher gibt es von mir 5 von 5 möglichen Sternen.

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