Rezension | Jeder Tag ist Muttertag von Hilary Mantel

Jeder Tag ist Muttertag von Hilary Mantel

Evelyn Axon lebt gemeinsam mit ihrer geistig leicht behinderten Tochter Muriel in einem großen Haus. Die beiden haben kaum soziale Kontakte und Evelyn findet schon die Besuche vom Sozialamt als extrem lästige Angelegenheiten. Muriel soll zu einer Tagesbetreuung, welche Evelyn für völlige Verschwendung hält, denn schließlich hat ihre Tochter doch eh nichts zu sagen und kein Interesse an anderen Menschen. Sie ist eine Last für die in die Jahre gekommene Evelyn und doch ist sie ihre Tochter, der sie sich aufopfern muss.

Jeder Tag ist Muttertag: eine verworrene Geschichte dreier Frauen

Die Beziehung der beiden ist schwierig. Evelyn scheint ihre Tochter Muriel überhaupt nicht richtig zu kennen. Sie hält sie für verblödet und unterdrückt sie, wo es nur geht und das auch mit Schlägen, wenn es sein muss. Denn Muriel spürt ihrer Meinung nach doch eh nichts. Muriel ist zu nichts zu gebrauchen und lebt in ihrer eigenen Welt. Evelyn ist in alt geworden und doch hat sie immer noch ihre Gabe der Hellsichtigkeit. Im Haus spuken überall Geister herum, die ihr das Leben schwer machen, sie stolpern lassen oder sie aus der Küche vertreiben. Evelyn ist diese Schikanen gewohnt. Doch der Leser bekommt im Verlauf des Buches Zweifel: Sind es tatsächlich Geister oder Muriel, die wacher ist, als Evelyn wahrhaben will?

Ein vermeintlich böses Spiel treibt nicht nur Muriel, sondern auch das Sozialamt, das Muriels Akte von einer Sozialarbeiterin zur nächsten weiterreicht, bis sie bei der jungen Isabel landet. Diese ist emotional noch sehr in ihre Fälle eingebunden und fühlt sich persönlich angegriffen, wenn sie – wie von Evelyn – als Eindringling in die Privatsphäre betrachtet wird. Aus einem dummen Zufall heraus verliert sie Muriels Akte und so bleiben die Besuche des Sozialamtes aus, nachdem Muriels Tagesbetreuung zeitweise eingestellt werden musste wegen Umbauarbeiten. Die ständigen Briefe und Postkarten des Sozialamts vernichtet Evelyn umgebend – immer dann, wenn sie ihr zufällig in die Hände fallen, denn Muriel versteckt gerne Dinge. Sie ist glücklich darüber, dass man sie nun endlich in Ruhe lässt.

Jeder Tag ist Muttertag: die drei Frauen

Evelyn

Evelyn ist eine verbitterte Frau, die Muriel angeblich liebt und gleichzeitig ist sie ernüchtert über ihr Leben und vielleicht auch wütend darüber, dass ihre Tochter anders ist. Doch die Mühe sie richtig kennen zu lernen und ihre Fähigkeiten zu fördern, macht sie sich nicht. Sie ist fest davon überzeugt, dass ihre Tochter zu nichts taugt, dass sie die Schläge gar nicht spürt, die sie manchmal aus Frust austeilt. Muriel ist für sie ein Ding, das existiert, aber mit der Welt nur in geringem Kontakt steht. Evelyn ist ein sozialer Außenseiter, der jeden vor den Kopf stößt, sich schnell verurteilt fühlt statt echte Anteilnahme am Interesse der Nachbarn zu vermuten. Sie ist griesgrämig und verbittert.

Muriel

Muriel hingegen ist nur schwer einzuschätzen. Ihre Perspektive nimmt der Leser nicht wirklich ein, nur durch ihr Verhalten kann man erraten, dass mehr in ihr steckt, als Evelyn glaubt. Sie treibt bewusst Spielchen mit ihrer Mutter, versucht so zu rebellieren, was ihr aber nur im Geheimen gelingt. Ein öffentliches Aufbegehren ist ihr nicht möglich. Als Evelyn erfährt, dass ihre Tochter schwanger ist, hat sie in ihrem Kopf gleich ein vorgefertigtes Ereignis, wie es passiert sein muss. Evelyn sorgt sich dann aber weder um Muriels Wohlergehen noch um das des Kindes. Sie ist nur besorgt, dass Menschen sich ungebeten in ihr Leben mischen, wenn die Schwangerschaft öffentlich wird.

Isabel

Isabel lebt ein bescheidenes Leben. Sie wohnt bei ihrem alten Vater, geht gerne zu Abendkursen und möchte Menschen helfen. Bei einem ihrer Kurse lernt sie den verheirateten Colin kennen, der sich in sie verliebt hat, der seine Frau und die Kinder aber nicht verlassen kann. Zwischen ihnen entbrennt eine Affäre, in welcher Colin wie unter Zwang versucht ständig Kontakt zu Isabel aufzunehmen. Auch er wird in die Geschichte der Axons hineingezogen, als die verschwundene Akte auf merkwürdigen Wegen in sein Umfeld gerät. Außerdem lebt Colins alleinstehende Schwester Florence im Haus neben den Axon-Frauen.

Jeder Tag ist Muttertag: ein erschütternder Roman über menschliche Beziehungen

Hilary Mantels Roman “Jeder Tag ist Muttertag” ist ein erschütterndes Buch. Es erzählt die Geschichte von Evelyn und ihrer Tochter sowie von Isabel, die ihren Lebensweg sucht und dabei mit den beiden Axon-Frauen zusammen stößt. “Jeder Tag ist Muttertag” berichtet von Beziehungen, die zerrüttet sind und in welchen nicht wirklich über die wahren Probleme gesprochen wird. Sei es das gestörte Verhältnis zwischen Evelyn und Muriel oder die glücklose Affäre von Isabel und Colin, aber ebenso die Ehe zwischen Colin und Sylvia oder das angespannte Verhältnis von Sylvia und ihrer Schwägerin Florence. Hilary Mantel bringt auf außergewöhnliche Weise diese Menschen alle zusammen, spannt ein Netz um Muriels Akte und verbindet aller Figuren miteinander.

Mantels Buch fokussiert die Figuren extrem stark. Dabei zeichnet sie nicht unbedingt starke Figuren, sondern Charaktere, die wankelmütig, unzufrieden und im Netz ihrer Beziehungen und (Vor-)Urteile gefangen sind. Sie zeigt auf, wie sehr man sich im Leben verstricken kann und keinen Ausweg mehr findet. Sie zeigt aber auch, wie ein Freiheitsdrang zumindest am Rande ein Ausweichen aus diesen beengten Stricken ermöglichen kann – zumindest zeitweise. Hilary Mantels “Jeder Tag ist Muttertag” hat mich mehr als einmal richtig schlucken lassen. Besonders das gestörte Verhältnis von Evelyn und ihrer Tochter Muriel hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Denn durch die Wirren im Sozialamt, werden die beiden Frauen sich selbst überlassen.

Bibliographische Angaben zum Buch:

Autorin: Hilary Mantel | Originaltitel: Every Day is Mother’s Day | übersetzt von: Werner Löcher-Lawrence | Genre: Gegenwartsliteratur | Reihe: – | Gattung: Roman | Verlag: DuMont Buchverlag ( 2016 ) | Medium: Hardcover | Seiten: 255 

Weitere Bücher von Hilary Mantel: “Die Ermordung Margaret Thatchers”

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