[Rezension] Stephan Kaluza: Ein möglicher Ort

Details:
Autor: Stephan Kaluza | Genre: Gegenwartsliteratur | Reihe: – | Gattung: Roman | Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt ( 2015 ) | Seiten: 317

Tag für Tag sitzt Fotograf Yann in seiner Wohnung und retuschiert zwanghaft Bilder, die er in der ganzen Welt geschossen hat. Ein Bild folgt dem anderen; immer auf der Suche nach dem perfekten Ort, der Idylle, schneidet er die Menschen, die Störenfriede, aus seinen Bildern heraus. Solange, bis seine Agentin ihm einen finanziell lohnenswerten Auftrag beschafft: eine Rotschwanzamazone in freier Wildbahn zu fotografieren. Dafür reist er nach Brasilien und begegnet alten Bekannten, Erinnerungen, neuen Freunden und Phantasien, die ihn an die Grenzen seines visuellen Fassungsvermögens bringen.

Das Entschlüsseln der Bedeutung

Aber nicht nur der Protagonist von Stephan Kaluzas Roman wird an die Grenzen seines Fassungsvermögens getrieben, auch der Leser muss hinter jeder Ecke, jedem Absatz und jeder neuen Redewendung erst entschlüsseln, welche Ebene der Autor ihn gerade betreten lässt. Die Szenenwechsel geschehen so schnell, dass man manchmal gar nicht weiß, wo man gerade ist oder welche Figur beschrieben wird. Plötzlich taucht man völlig unvoreingenommen in eine Szenerie ein, die bunt und schrill sein kann, die metaphernreich oder auch ebenenreich ist und sich erst in ihrer Gänze dem Leser präsentiert, wenn er schon mehrmals auf der falschen Spur war. Stephan Kaluza spielt mit den Erwartungen des Lesers: „Worauf will er hinaus?“, fragt man sich und erlebt dabei eine Überraschung nach der anderen in einem Verwirrspiel aus sich erhebenden und zusammenfallenden Konstrukten.

Um was geht es eigentlich?

Yann reist nach Brasilien und trifft dort seine alte Bekannte, Schwester Konstanze, er begegnet dem berühmten Schriftsteller Salvatore Santos, dessen Kontakt ein gemeinsamer Bekannter hergestellt hat, und er lernt Julie Sander kennen, die zweite wichtige Figur des Buches, die zufällig ebenfalls nach Brasilien gereist ist. Gemeinsam erkunden sie den Urwald, obwohl sich die Sympathien in Grenzen halten, und suchen die Rotschwanzamazone in ihrer natürlichen Umgebung.

Wer ist wer? oder das Verwirrspiel der Ebenen

Kaluzas Held Yann ist nicht nur Fotograf, sondern versucht sich auch als Schriftsteller. Überall begleitet ihn ein Notizbuch und mitten in einem Gespräch, einem Essen oder einer Begegnung kramt er sein Buch hervor und beginnt exzessiv zu schreiben. Verstört und verwirrt sein Gegenüber, erschafft alternative Szenerien oder schreibt die Geschichte weiter, so wie sie hätte verlaufen können. Dabei verliert er sich manchmal selbst und kann sich an diese Exzesse, die ihn befallen nicht erinnern. Der Leser dagegen wird mitten hineingeworfen. Aber Kaluza erschafft noch mehr Ebenen. Er wechselt die Perspektiven schneller als man schauen kann und plötzlich sind wir nicht mehr bei Yann, sondern bei Julie, erleben eine Szene noch einmal aufs Neue, aber aus einer völlig anderen Perspektive, mit anderen Emotionen und einer Atmosphäre, die kaum vergleichbar ist, mit dem eben bereits erlebten, dem Bekannten der Situation.

Imagination versus Wirklichkeit

Die Bilder der Szenen entschlüsseln sich nicht beim ersten Satz, sondern der Leser wird bewusst, häufig in indirekter Rede, dorthin geführt: „Was lese ich da gerade?“ ist eine Frage, die das Leseerlebnis von „Ein möglicher Ort“ ständig begleitet. Neben Fachbucheinträgen oder Listen und Bildern entwirft Stephan Kaluza einen Roman, der sich auf vielen unterschiedlichen und sich ständig wechselnden Ebenen bewegt. Wer ist Autor, wer ist Figur, wer ist der Spielball einer sich entfaltenden Imagination und wo liegen die Grenzen zwischen dem Bild und der Wirklichkeit? Yann sucht in seinen Bildern ein Idyll, das frei vom menschlichen Dasein ist, und entflieht auf dieser Suche seiner Existenz und der schmerzlichen Vergangenheit und bringt damit aber auch den Leser an die Grenzen seiner Imagination.

Kaluza spielt nicht nur mit den Erzählebenen seines Romans, sondern stellt das gesamte Konstrukt seiner Geschichte in Frage. Er verdreht die Autorenrolle, wirft Figuren durcheinander, sodass man nicht mehr genau sagen kann, wer eigentlich die Strippen in Händen hält; wer ist der Puppenspieler? Seine Figuren sind dabei so lebendig und gleichzeitig gefangen in ihren Mustern, die sie sich angeeignet haben und entpuppen sich doch plötzlich mit einem zweiten Gesicht, das ebenso schnell verschwinden kann, wie es gekommen ist. Einzige Konstante, eine Art Ankerpunkt, war für mich Schwester Konstanze; bei ihr ist die Realität angesiedelt (so scheint es).

Und neben der Wirklichkeit steht die Imagination, die sich ins Lebendige erhebt, um den Leser später daran zweifeln zu lassen, ebenso, wie Yann an seinem Gedächtnis zweifelt. Und dann wieder hebt Kaluza Textpassagen hervor, Sequenzen, die so detailliert im Allerkleinsten sind, sodass aus einer einfachen Szene durch die Fixierung auf Gedanken, Farben oder auf Geräusche ein außerordentliches Leseerlebnis wird. Und damit ist eigentlich alles und gleichzeitig nichts gesagt. Denn Kaluzas Roman ist so vielschichtig und außergewöhnlich und noch viel mehr, dass man ihn einfach selbst gelesen haben muss, um Inhalt und Form als Rezipient in Einklang bringen zu können.

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